Grieche sucht Griechin - Дюрренматт Фридрих (книга жизни .txt) 📗
Archilochos, entschlossen, sich an der Welt zu rächen, wurde von Fahrcks und seinen Begleitern mit einem amerikanischen Wagen an den Quai Tassigni gebracht, dem entlang er bis zum Quai de l'Etat (wo sich der Präsidentenpalais befand) zehn Minuten zu gehen hatte. Es war Viertel nach zwei. Der Quai war menschenleer und ein Viertelsmond war hinter der St. Lukas-Kathedrale aufgegangen, in dessen Licht die Eisflächen, die sich im Strom gebildet hatten, und die bizarren Zacken und Barte am zugefrorenen Cäcilienbrunnen schimmerten. Er bewegte sich in den Schatten der Palais und der Hotels, kam am >Ritz< vorüber mit dem frierenden Türhüter davor, der auf und ab ging; doch begegnete er sonst niemandem, nur Fahrcks Wagen fuhr einige Male wie zufällig vorbei, prüfend, ob Archilochos den Befehl ausführe, hielt auch beim Polizisten vor dem Wirtschaftsministerium, um irgend eine fingierte Frage zu stellen, so daß Archilochos unbemerkt in den Hof gelangen konnte. Dort fand er die Leiter an der Mauer. Er fühlte in der Tasche seines alten, geflickten Mantels, den er von der Mansarde mitgenommen hatte, die Bombe, kletterte die Leiter hoch, zog sie, oben auf der schmalen Mauer sitzend, nach und ließ sie auf der anderen Seite hinab, stieg hinunter. Er stand auf einem hartgefrorenen Rasen und befand sich im Schatten einer Tanne, wie der Sekretär gesagt hatte. Von der Quaiseite her fielen grelle Lichter, und ein Auto tutete irgendwo, vielleicht Fahrcks, auch kam der Viertelsmond nun hinter dem Präsidentenpalais hervor, einem plumpen überladenen Barockgebäude (in allen Kunstbüchern abgebildet und von allen Kunsterklärern gepriesen). In der Nähe des Monds funkelte ein großer Stern, und die Bordlichter eines Flugzeugs zogen weit oben vorbei. Dann hallten Schritte über den gepflasterten Weg, der sich am Palais vorbeiwand. Er preßte sich gegen den Stamm, verborgen im Geäst der Tanne, das bis zum Boden reichte, ihn harzig umfing und mit den Nadeln sein Gesicht ritzte. Es waren zwei der Leibwache, die im Gleichschritt herankamen, zuerst nur als dunkle Silhouetten sichtbar, mit geschulterten Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten, die weißen Federbüsche wippend im Mond. Vor der Tanne blieben sie stehen. Einer schob mit dem Gewehr die Äste zur Seite, doch gingen sie wieder weiter, da sie den Griechen nicht bemerkten, der den Atem anhielt, sich schon entdeckt geglaubt und die Handgranate bereit gemacht hatte. Sie waren nun hell beschienen vom Mond, so daß ihre goldenen Helme und Brustpanzer auf der historischen Uniform blitzten. Sie bogen um die Ecke des Palais. Er löste sich von der Tanne und eilte gegen die Hinterfront. Hier lag alles grell im Mondlicht, große Tannen und kahle Trauerweiden, ein vereister Teich und das Palais des Nuntius. Die Türe fand er sogleich. Der Schlüssel paßte. Er drehte ihn um, aber die Türe öffnete sich nicht. Sie mußte von innen verriegelt sein. Archilochos stutzte, jeden Augenblick konnte die Wache wiederkommen. Er trat in den Hinterhof und schaute die Fassade des Palais hoch. Die Hintertüre befand sich zwischen zwei nackte Marmorriesen gebettet, Kastor und Pollux offenbar, die auf ihren Schultern einen geschwungenen Balkon trugen (der sich nach seiner Berechnung vor dem Schlafzimmer des Präsidenten befand). Er begann entschlossen zu klettern, in einer Art Raserei, das Attentat dennoch auszuführen, einen Schenkel, einen Bauch, eine Brust hinan, krallte sich in einen Marmorbart, hielt sich an einem Marmorohr, stemmte sich an einem riesigen Haupte hoch und gelangte auf den Balkon. Vergeblich. Die Türe war nicht zu öffnen, und die Scheiben einzuschlagen wagte er nicht, hörte er doch nun die Schritte der Wache. Er legte sich auf den kalten Boden des Balkons nieder, die Wache kam im Gleichschritt wie das erste Mal, zog unter ihm vorbei. Die Balkontüre war von verschiedenen nackten Männern und Weibern umgeben, von überlebensgroßen Gestalten, mit Pferdeköpfen dazwischen, alle vom Mond hell beschienen, die miteinander in den fürchterlichsten und kompliziertesten Stellungen kämpften und sich zerfleischten, wie er, noch auf dem Balkon liegend, feststellte, eine Amazonenschlacht offenbar, und mitten im Getümmel der Leiber bemerkte er die offene Höhle eines runden Fensters. Er wagte sich in die Marmorgötterwelt hinauf, geriet zwischen gewaltige Brüste und Schenkel, in beständiger Sorge, die Bombe in seiner Manteltasche könnte explodieren, kroch an Heldenbäuchen, an gebogenen und verrenkten Rücken entlang, konnte sich einmal nur noch am gezückten Schwert eines Kriegers halten, da er sich schon abgestürzt glaubte, und preßte sich angstvoll in die Arme einer sterbenden Amazone, deren mondenes Antlitz ihn zärtlich betrachtete, während nun tief unter ihm die Leibwache zum dritten Mal die Runde vollendete und stehenblieb.
Archilochos sah, wie die Wache in den hellen Park trat und die Schloßfassade betrachtete.
«Da ist jemand hinaufgeklettert«, sagte einer der beiden nach langem Spähen.
«Wo?«fragte der andere.
«Dort.»
«Unsinn, nur ein Schatten zwischen den Göttern.»
«Sind keine Götter, sind Amazonen.»
«Was ist denn dies?»
«Weiber mit nur einer Brust.»
«Haben aber zwei.»
«Vergeßlicher Bildhauer«, meinte der erste.»Aber es klebt doch einer da oben. Will ihn mal herunterholen.»
Er legte das Gewehr an. Archilochos rührte sich nicht.
Der andere reklamierte:»Willst du das ganze Quartier wecken mit deiner Schießerei?»
«Es ist aber einer.»
«Es ist keiner. Da hinauf käme auch niemand.»
«Hast eigentlich recht.»
«Siehst du? Gehen wir!»
Die zwei zogen davon, im Taktschritt, die Gewehre wieder geschultert. Arnolph kletterte weiter, erreichte endlich das Fenster, kroch hindurch. Er befand sich im zweiten Stock, in einem hohen, kahlen Abort, erfüllt mit Mondlicht, das durch das offene Fenster fiel. Er war todmüde, von der Kletterei mit Staub und Vogeldreck überzogen und vom jähen Wechsel zwischen der marmornen Götterwelt und seinem jetzigen Aufenthalt ernüchtert. Er atmete schwer. Er öffnete die Türe und befand sich in einer weiten Halle, die sich zu beiden Seiten in Säle öffnete, auch sie vom Mond erhellt, mit Statuen zwischen den Säulen; nur undeutlich erriet er die breitgeschwungene Treppe. Er schritt vorsichtig nach dem ersten Stockwerk hinunter, erreichte den Korridor, von dem ihm der Sekretär erzählt hatte, spähte durch die hohen Fenster auf der Quaiseite, erschrak, als ihn die Lichter der Stadt blendeten. Unten auf dem Hof fand eine Wachtablösung statt, eine feierliche Zeremonie mit Salutieren, Hacken zusammenschlagen, Strammstehen und Stechschritt. Er glitt ins Dunkel zurück, schlich gegen die Schlafzimmertüre am anderen Ende des Korridors und öffnete sie leise, die Handgranate in der Rechten. Durch die hohe Balkontüre fiel schimmerndes Mondlicht, es war die Türe, vor der er draußen gestanden hatte. Er trat in den Raum, nach dem Bett zu spähen und die Handgranate zu werfen, doch befand sich kein Bett in ihm, kein schlafender Staatspräsident, nur ein Korb mit Geschirr. Sonst war das Zimmer leer. Nichts stimmte. Auch Anarchisten mußten bisweilen falsch orientiert sein. Verwirrt zog er sich zurück und begann trotzig nach seinem Opfer zu suchen. Er stieg in den zweiten Stock, die Bombe bereit, dann in den dritten, durchwanderte Prunk- und Staatssäle, Konferenzzimmer, Korridore, kleine Salonzimmer, drang in Büros mit verhüllten Schreibmaschinen, in Gemäldegalerien, in einen Waffensaal mit alten Rüstungen, Kanonenrohren und hängenden Fahnen, wo ihm eine Hellebarde den Ärmel aufschlitzte. Endlich, als er in den vierten Stock stieg, vorsichtig der Marmorwand entlang, schimmerte auf ihr ein Schein. Irgend jemand mußte Licht gemacht haben. Er faßte Mut und schritt weiter. Die Handgranate verlieh ihm ein Gefühl von Macht. Er betrat den Korridor. Die Müdigkeit war verschwunden. Er spähte den Korridor entlang, der bei einer Türe endete. Sie war halb offen. Im Zimmer brannte Licht. Er eilte über den weichen Teppich, doch stand, als er die Türe aufriß, die Hand mit der Granate erhoben, der Staatspräsident vor ihm, im Schlafrock, so überraschend, daß Archilochos eben noch die Bombe in seiner Manteltasche verbergen konnte.
«Entschuldigen Sie«, stammelte der Attentäter.
«Da sind Sie ja, lieber verehrter Herr Archilochos«, rief der Staatspräsident freudig und schüttelte dem verwirrten Griechen die Hand:»Habe Sie erwartet, den ganzen Abend, und nun sah ich Sie zufällig von meinem Fenster aus über die Mauer steigen. Eine gute Idee. Meine Leibwache ist viel zu pedantisch. Die Kerle hätten Sie nie eingelassen. Doch nun sind Sie da, was mich ungemein freut. Wie sind Sie denn nur ins Haus gekommen? Wollte gerade den Kammerdiener hinunterschicken. Ich wohne erst seit einer Woche im vierten Stock, hier ist es gemütlicher als im ersten, nur, freilich, funktioniert der Lift nicht immer.»
Die Hintertüre sei unverschlossen gewesen, stammelte Archilochos, der den richtigen Augenblick verpaßt hatte und auch zu nahe bei seinem Opfer stand.
«Das trifft sich gut«, freute sich der Staatspräsident.»Mein Kammerdiener, der uralte Ludwig, Ludewig, wie ich ihn nenne (sieht ja auch viel mehr einem Staatspräsidenten ähnlich als ich), hat denn auch ein kleines Essen improvisiert.»
«Bitte«, sagte Archilochos errötend, er wolle nicht stören.
Das tue er ganz und gar nicht, beteuerte der alte spitzbärtige Herr freundlich.»In meinem Alter schläft man nicht gerade viel, kalte Füße, Rheumatismus, Sorgen, private und geschäftliche als Präsident bei der heutigen Tendenz der Staaten, zusammenzukrachen, und da esse ich öfters eine Kleinigkeit in den langen Nächten in meinem einsamen Palais. Zum Glück ist voriges Jahr die Zentralheizung eingerichtet worden.»
«Es ist wirklich angenehm warm«, stellte Archilochos fest.
«Wie sehen Sie denn aus?«wunderte sich der Staatspräsident:»Ganz von Staub überzogen. Ludewig, bürste ihn doch ein bißchen.»
«Gestatten«, sagte der Kammerdiener und reinigte den Attentäter vom Staub und dem Vogeldreck der Fassade. Archilochos wagte sich nicht zu wehren, fürchtete, die Bombe in seiner Manteltasche könne durch das Bürsten explodieren, und war froh, als ihm der Kammerdiener aus dem Mantel half.
«Sie ähneln meinem Butler in dem Boulevard Saint-Père«, sagte er.
«Das ist auch mein Halbbruder«, bemerkte der Kammerdiener.»Zwanzig Jahre jünger als ich.»
«Wir haben uns viel vorzuplaudern, denke ich«, sagte der Staatspräsident, seinen Mörder durch den nun hell erleuchteten Korridor führend.
Sie betraten ein kleines Zimmerchen, gegen den Quai gelegen, mit Kerzen erhellt und einem Tischchen in einer Fensternische, auf dem kostbares Geschirr auf weißem Linnen bereitstand und funkelnde Kristallgläser.