Ferdinands Schuld und Wandlung - Goethe Johann Wolfgang (читать книги онлайн бесплатно регистрация .TXT) 📗
Zu dieser Gemutsstimmung traf ein sonderbarer Zufall, der ihm eine reizende Gelegenheit gab, dasjenige zu tun, wozu er nur einen dunkeln und unentschiedenen Trieb gefuhlt hatte.
Sein Vater gab ihm den Auftrag, einen Kasten alter Briefe durchzusehen und zu ordnen. Eines Sonntags, da er allein war, trug er ihn durch das Zimmer, wo der Schreibtisch stand, der des Vaters Kasse enthielt. Der Kasten war schwer; er hatte ihn unrecht gefa?t und wollte ihn einen Augenblick absetzen oder vielmehr nur anlehnen. Unvermogend, ihn zu halten, stie? er gewaltsam an die Ecke des Schreibtisches, und der Deckel desselben flog auf. Er sah nun alle die Rollen vor sich liegen, zu denen er manchmal nur hineingeschielt hatte, setzte seinen Kasten nieder und nahm, ohne zu denken und zu uberlegen, eine Rolle von der Seite weg, wo der Vater gewohnlich sein Geld zu willkurlichen Ausgaben herzunehmen schien. Er druckte den Schreibtisch wieder zu und versuchte den Seitensto?: der Deckel flog jedesmal auf, und es war so gut, als wenn er den Schlussel zum Pulte gehabt hatte.
Mit Heftigkeit suchte er nunmehr jede Vergnugung wieder, die er bisher hatte entbehren mussen. Er war flei?iger um seine Schone; alles, was er tat und vornahm, war leidenschaftlicher; seine Lebhaftigkeit und Anmut hatten sich in ein heftiges, ja beinahe wildes Wesen verwandelt, das ihm zwar nicht ubel lie?, doch niemanden wohltatig war.
Was der Feuerfunke auf ein geladnes Gewehr, das ist die Gelegenheit zur Neigung, und jede Neigung, die wir gegen unser Gewissen befriedigen, zwingt uns, ein Uberma? von physischer Starke anzuwenden; wir handeln wieder als wilde Menschen, und es wird schwer, au?erlich diese Anstrengung zu verbergen.
Je mehr ihm seine innere Empfindung widersprach, desto mehr haufte Ferdinand kunstliche Argumente aufeinander, und desto mutiger und freier schien er zu handeln, je mehr er sich selbst von einer Seite gebunden fuhlte.
Zu derselbigen Zeit waren allerlei Kostbarkeiten ohne Wert Mode geworden. Ottilie liebte sich zu schmucken; er suchte einen Weg, sie ihr zu verschaffen, ohne da? Ottilie selbst eigentlich wu?te, woher die Geschenke kamen. Die Vermutung ward auf einen alten Oheim geworfen, und Ferdinand war doppelt vergnugt, indem ihm seine Schone ihre Zufriedenheit uber die Geschenke und ihren Verdacht auf den Oheim zugleich zu erkennen gab.
Aber um sich und ihr dieses Vergnugen zu machen, mu?te er noch einigemal den Schreibtisch seines Vaters eroffnen, und er tat es mit desto weniger Sorge, als der Vater zu verschiedenen Zeiten Geld hineingelegt und herausgenommen hatte, ohne es aufzuschreiben.