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Der Mann von f?nfzig Jahren - фон Гёте Иоганн Вольфганг (читать книги полностью TXT) 📗

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Wie diese guten, alles Anteils wurdigen Personen ihre nachtlichen Stunden zugebracht, ist uns ein Geheimnis geblieben; den andern Morgen aber von fruh an zeigten sich beide hochst ungeduldig. Des Anfragens war kein Ende, der Wunsch, den Leidenden zu sehen, bescheiden, doch dringend; nur gegen Mittag erlaubte der Arzt einen kurzen Besuch.

Die Baronin trat hinzu, Flavio reichte die Hand hin — »Verzeihung, liebste Tante, einige Geduld, vielleicht nicht lange«— Hilarie trat hervor, auch ihr gab er die Rechte — »Gegru?t, liebe Schwester«— das fuhr ihr durchs Herz, er lie? nicht los, sie sahen einander an, das herrlichste Paar, kontrastierend im schonsten Sinne. Des Junglings schwarze, funkelnde Augen stimmten zu den dustern, verwirrten Locken; dagegen stand sie scheinbar himmlisch in Ruhe, doch zu dem erschutternden Begebnis gesellte sich nun die ahnungsvolle Gegenwart. Die Benennung» Schwester«— ihr Allerinnerstes war aufgeregt. Die Baronin sprach:»Wie geht es, lieber Neffe?«—»Ganz leidlich, aber man behandelt mich ubel.«—»Wieso?«—»Da haben sie mir Blut gelassen, das ist grausam; sie haben es weggeschafft, das ist frech; es gehort ja nicht mein, es gehort alles, alles ihre. «Mit diesen Worten schien sich seine Gestalt zu verwandeln, doch mit hei?en Tranen verbarg er sein Antlitz ins Kissen.

Hilariens Miene zeigte der Mutter einen furchtbaren Ausdruck, es war, als wenn das liebe Kind die Pforten der Holle vor sich eroffnet sahe, zum erstenmal ein Ungeheures erblickte und fur ewig. Rasch, leidenschaftlich eilte sie durch den Saal, warf sich im letzten Kabinett auf den Sofa, die Mutter folgte und fragte, was sie leider schon begriff. Hilarie, wundersam aufblickend, rief:»Das Blut, das Blut, es gehort alles ihre, alles ihre, und sie ist es nicht wert. Der Ungluckselige! der Arme!«Mit diesen Worten erleichterte der bitterste Tranenstrom das bedrangte Herz.

Wer unternahme es wohl, die aus dem Vorhergehenden sich entwickelnden Zustande zu enthullen, an den Tag zu bringen das innere, aus dieser ersten Zusammenkunft den Frauen erwachsende Unheil? Auch dem Leidenden war sie hochst schadlich, so behauptete wenigstens der Arzt, der zwar oft genug zu berichten und zu trosten kam, aber sich doch verpflichtet fuhlte, alles weitere Annahern zu verbieten. Dabei fand er auch eine willige Nachgiebigkeit, die Tochter wagte nicht zu verlangen, was die Mutter nicht zugegeben hatte, und so gehorchte man dem Gebot des verstandigen Mannes. Dagegen brachte er aber die beruhigende Nachricht, Flavio habe Schreibzeug verlangt, auch einiges aufgezeichnet, es aber sogleich neben sich im Bette versteckt. Nun gesellte sich Neugierde zu der ubrigen Unruhe und Ungeduld, es waren peinliche Stunden. Nach einiger Zeit brachte er jedoch ein Blattchen von schoner, freier Hand, obgleich mit Hast geschrieben, es enthielt folgende Zeilen:

«Ein Wunder ist der arme Mensch geboren,

In Wundern ist der irre Mensch verloren,

Nach welcher dunklen, schwer entdeckten Schwelle

Durchtappen pfadlos ungewisse Schritte?

Dann in lebendigem Himmelsglanz und Mitte

Gewahr', empfind' ich Nacht und Tod und Holle.»

Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Krafte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflosenden Schmerzen verfluchtigt. Der Arzt hatte sich uberzeugt, da? der Jungling bald wieder herzustellen sei; korperlich gesund, werde er schnell sich wieder froh fuhlen, wenn die auf seinem Geist lastende Leidenschaft zu heben oder zu lindern ware. Hilarie sann auf Erwiderung; sie sa? am Flugel und versuchte die Zeilen des Leidenden mit Melodie zu begleiten. Es gelang ihr nicht, in ihrer Seele klang nichts zu so tiefen Schmerzen; doch bei diesem Versuch schmeichelten Rhythmus und Reim sich dergestalt an ihre Gesinnungen an, da? sie jenem Gedicht mit lindernder Heiterkeit entgegnete, indem sie sich Zeit nahm, folgende Strophe auszubilden und abzurunden:

«Bist noch so tief in Schmerz und Qual verloren,

So bleibst du doch zum Jugendgluck geboren;

Ermanne dich zu rasch gesundem Schritte,

Komm in der Freundschaft Himmelsglanz und Helle,

Empfinde dich in treuer Guten Mitte,

Da sprie?e dir des Lebens heitre Quelle.»

Der arztliche Hausfreund ubernahm die Botschaft, sie gelang, schon erwiderte der Jungling gema?igt; Hilarie fuhr mildernd fort, und so schien man nach und nach wieder einen heitern Tag, einen freien Boden zu gewinnen, und vielleicht ist es uns vergonnt, den ganzen Verlauf dieser holden Kur gelegentlich mitzuteilen. Genug, einige Zeit verstrich in solcher Beschaftigung hochst angenehm; ein ruhiges Wiedersehen bereitete sich vor, das der Arzt nicht langer als notig zu verspaten gedachte.

Indessen hatte die Baronin mit Ordnen und Zurechtlegen alter Papiere sich beschaftigt, und diese dem gegenwartigen Zustande ganz angemessene Unterhaltung wirkte gar wundersam auf den erregten Geist. Sie sah manche Jahre ihres Lebens zuruck, schwere drohende Leiden waren vorubergegangen, deren Betrachtung den Mut fur den Moment kraftigte; besonders ruhrte sie die Erinnerung an ein schones Verhaltnis zu Makarien, und zwar in bedenklichen Zustanden. Die Herrlichkeit jener einzigen Frau ward ihr wieder vor die Seele gebracht und sogleich der Entschlu? gefa?t, sich auch diesmal an sie zu wenden: denn zu wem sonst hatte sie ihre gegenwartigen Gefuhle richten, wem sonst Furcht und Hoffnung offen bekennen sollen?

Bei dem Aufraumen fand sie aber auch unter andern des Bruders Miniaturportrat und mu?te uber die Ahnlichkeit mit dem Sohne lachelnd seufzen. Hilarie uberraschte sie in diesem Augenblick, bemachtigte sich des Bildes, und auch sie ward von jener Ahnlichkeit wundersam betroffen.

So verging einige Zeit; endlich mit Vergunstigung des Arztes und in seinem Geleite trat Flavio angemeldet zum Fruhstuck herein. Die Frauen hatten sich vor dieser ersten Erscheinung gefurchtet. Wie aber gar oft in bedeutenden, ja schrecklichen Momenten etwas Heiteres, ja Lacherliches sich zu ereignen pflegt, so gluckte es auch hier. Der Sohn kam vollig in des Vaters Kleidern; denn da von seinem Anzug nichts zu brauchen war, so hatte man sich der Feld- und Hausgarderobe des Majors bedient, die er, zu bequemem Jagd- und Familienleben, bei der Schwester in Verwahrung lie?. Die Baronin lachelte und nahm sich zusammen; Hilarie war, sie wu?te nicht wie, betroffen, genug, sie wendete das Gesicht weg, und dem jungen Manne wollte in diesem Augenblick weder ein herzliches Wort von den Lippen noch eine Phrase glucken. Um nun samtlicher Gesellschaft aus der Verlegenheit zu helfen, begann der Arzt eine Vergleichung beider Gestalten. Der Vater sei etwas gro?er, hie? es, und deshalb der Rock etwas zu lang; dieser sei etwas breiter, deshalb der Rock uber die Schulter zu eng. Beide Mi?verhaltnisse gaben dieser Maskerade ein komisches Ansehen.

Durch diese Einzelheiten jedoch kam man uber das Bedenkliche des Augenblicks hinaus. Fur Hilarien freilich blieb die Ahnlichkeit des jugendlichen Vaterbildes mit der frischen Lebensgegenwart des Sohnes unheimlich, ja bedrangend.

Nun aber wunschten wir wohl den nachsten Zeitverlauf von einer zarten Frauenhand umstandlich geschildert zu sehen, da wir nach eigener Art und Weise uns nur mit dem Allgemeinsten befassen durfen. Hier mu? denn nun von dem Einflu? der Dichtkunst abermals die Rede sein.

Ein gewisses Talent konnte man unserm Flavio nicht absprechen, es bedurfte jedoch nur zu sehr eines leidenschaftlich-sinnlichen Anlasses, wenn etwas Vorzugliches gelingen sollte; deswegen denn auch fast alle Gedichte, jener unwiderstehlichen Frau gewidmet, hochst eindringend und lobenswert erschienen und nun, einer gegenwartigen, hochst liebenswurdigen Schonen mit enthusiastischem Ausdruck vorgelesen, nicht geringe Wirkung hervorbringen mu?ten.

Ein Frauenzimmer, das eine andere leidenschaftlich geliebt sieht, bequemt sich gern zu der Rolle einer Vertrauten; sie hegt ein heimlich, kaum bewu?tes Gefuhl, da? es nicht unangenehm sein mu?te, sich an die Stelle der Angebeteten leise gehoben zu sehen. Auch ging die Unterhaltung immer mehr und mehr ins Bedeutende. Wechselgedichte, wie sie der Liebende gern verfa?t, weil er sich von seiner Schonen, wenn auch nur bescheiden, halb und halb kann erwidern lassen, was er wunscht und was er aus ihrem schonen Munde zu horen kaum erwarten durfte. Dergleichen wurden mit Hilarien auch wechselsweise gelesen, und zwar, da es nur aus der einen Handschrift geschah, in welche man beiderseits, um zu rechter Zeit einzufallen, hineinschauen und zu diesem Zweck jedes das Bandchen anfassen mu?te, so fand sich, da? man, nahe sitzend, nach und nach Person an Person, Hand an Hand immer naher ruckte und die Gelenke sich ganz naturlich zuletzt im verborgenen beruhrten.

Aber bei diesen schonen Verhaltnissen, unter solchen daraus entspringenden allerliebsten Annehmlichkeiten fuhlte Flavio eine schmerzliche Sorge, die er schlecht verbarg und, immerfort nach der Ankunft seines Vaters sich sehnend, zu bemerken gab, da? er diesem das Wichtigste zu vertrauen habe. Dieses Geheimnis indes ware, bei einigem Nachdenken, nicht schwer zu erraten gewesen. Jene reizende Frau mochte in einem bewegten, von dem zudringlichen Jungling hervorgerufnen Momente den Unglucklichen entschieden abgewiesen und die bisher hartnackig behauptete Hoffnung aufgehoben und zerstort haben. Eine Szene, wie dies zugegangen, wagten wir nicht zu schildern, aus Furcht, hier mochte uns die jugendliche Glut ermangeln. Genug, er war so wenig bei sich selbst, da? er sich eiligst aus der Garnison ohne Urlaub entfernte und, um seinen Vater aufzusuchen, durch Nacht, Sturm und Regen nach dem Landgut seiner Tante verzweifelnd zu gelangen trachtete, wie wir ihn auch vor kurzem haben ankommen sehen. Die Folgen eines solchen Schrittes fielen ihm nun bei Ruckkehr nuchterner Gedanken lebhaft auf, und er wu?te, da der Vater immer langer ausblieb und er die einzige mogliche Vermittlung entbehren sollte, sich weder zu fassen noch zu retten.

Wie erstaunt und betroffen war er deshalb, als ihm ein Brief seines Obristen eingehandigt wurde, dessen bekanntes Siegel er mit Zaudern und Bangigkeit aufloste, der aber nach den freundlichsten Worten damit endigte, da? der ihm erteilte Urlaub noch um einen Monat sollte verlangert werden.

So unerklarlich nun auch diese Gunst schien, so ward er doch dadurch von einer Last befreit, die sein Gemut fast angstlicher als die verschmahte Liebe selbst zu drucken begann. Er fuhlte nun ganz das Gluck, bei seinen liebenswurdigen Verwandten so wohl aufgehoben zu sein; er durfte sich der Gegenwart Hilariens erfreuen und war nach kurzem in allen seinen angenehm-geselligen Eigenschaften wiederhergestellt, die ihn der schonen Witwe selbst sowohl als ihrer Umgebung auf eine Zeitlang notwendig gemacht hatten und nur durch eine peremtorische Forderung ihrer Hand fur immer verfinstert worden.

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