Der Mann von f?nfzig Jahren - фон Гёте Иоганн Вольфганг (читать книги полностью TXT) 📗
Wie aber den Frauen der Augenblick, wo ihre bisher unbestrittene Schonheit zweifelhaft werden will, hochst peinlich ist, so wird den Mannern in gewissen Jahren, obgleich noch im volligen Vigor, das leiseste Gefuhl einer unzulanglichen Kraft au?erst unangenehm, ja gewisserma?en angstlich.
Ein anderer eintretender Umstand jedoch, der ihn hatte beunruhigen sollen, verhalf ihm zu der besten Laune. Sein kosmetischer Kammerdiener, der ihn auch bei dieser Landpartie nicht verlassen hatte, schien einige Zeit her einen andern Weg einzuschlagen, wozu ihn fruhes Aufstehn des Majors, tagliches Ausreiten und Umhergehen desselben sowie der Zutritt mancher Beschaftigten, auch bei der Gegenwart des Obermarschalls mehrerer Geschaftslosen zu notigen schien. Mit allen Kleinigkeiten, die nur die Sorgfalt eines Mimen zu beschaftigen das Recht hatten, lie? er den Major schon einige Zeit verschont, aber desto strenger hielt er auf einige Hauptpunkte, welche bisher durch ein geringeres Hokuspokus waren verschleiert gewesen. Alles, was nicht nur den Schein der Gesundheit bezwecken, sondern was die Gesundheit selbst aufrechterhalten sollte, ward eingescharft, besonders aber Ma? in allem und Abwechselung nach den Vorkommenheiten, Sorgfalt sodann fur Haut und Haare, fur Augenbrauen und Zahne, fur Hande und Nagel, fur deren zierlichste Form und schicklichste Lange der Wissende schon langer gesorgt hatte. Dabei wurde Ma?igung aber- und abermals in allem, was den Menschen aus seinem Gleichgewicht zu bringen pflegt, dringend anempfohlen, worauf denn dieser Schonheits-Erhaltungs-Lehrer sich seinen Abschied erbat, weil er seinem Herrn nichts mehr nutze sei. Indes konnte man denken, da? er sich doch wohl wieder zu seinem vorigen Patron zuruckwunschen mochte, um den mannigfaltigen Vergnugungen eines theatralischen Lebens fernerhin sich ergeben zu konnen.
Und wirklich tat es dem Major sehr wohl, wieder sich selbst gegeben zu sein. Der verstandige Mann braucht sich nur zu ma?igen, so ist er auch glucklich. Er mochte sich der herkommlichen Bewegung des Reitens, der Jagd und was sich daran knupft, wieder mit Freiheit bedienen, die Gestalt Hilariens trat in solchen einsamen Momenten wieder freudig hervor, und er fugte sich in den Zustand des Brautigams, vielleicht den anmutigsten, der uns in dem gesitteten Kreise des Lebens gegonnt ist.
Schon einige Monate waren die samtlichen Familienglieder ohne besondere Nachricht voneinander geblieben; der Major beschaftigte sich, in der Residenz gewisse Einwilligungen und Bestatigungen seines Geschafts abschlie?lich zu negoziieren; die Baronin und Hilarie richteten ihre Tatigkeit auf die heiterste, reichlichste Ausstattung; der Sohn, seiner Schonen mit Leidenschaft dienstpflichtig, schien hieruber alles zu vergessen. Der Winter war angekommen und umgab alle landlichen Wohnungen mit unerfreulichen Sturmregen und fruhzeitigen Finsternissen.
Wer heute durch eine dustre Novembernacht sich in der Gegend des adeligen Schlosses verirrt hatte und bei dem schwachen Lichte eines bedeckten Mondes Acker, Wiesen, Baumgruppen, Hugel und Gebusche duster vor sich liegen sahe, auf einmal aber bei einer schnellen Wendung um eine Ecke die ganz erleuchtete Fensterreihe eines langen Gebaudes vor sich erblickte, er hatte gewi? geglaubt, eine festlich geschmuckte Gesellschaft dort anzutreffen. Wie sehr verwundert mu?te er aber sein, von wenigen Bedienten erleuchtete Treppen hinaufgefuhrt, nur drei Frauenzimmer, die Baronin, Hilarien und das Kammermadchen, in hellen Zimmern zwischen klaren Wanden, neben freundlichem Hausrat, durchaus erwarmt und behaglich, zu erblicken.
Da wir nun aber die Baronin in einem festlichen Zustande zu uberraschen glauben, so ist es notwendig, zu bemerken, da? diese glanzende Erleuchtung hier nicht als au?erordentlich anzusehen sei, sondern zu den Eigenheiten gehore, welche die Dame aus ihrem fruhern Leben mit herubergebracht hatte. Als Tochter einer Oberhofmeisterin, bei Hof erzogen, war sie gewohnt, den Winter allen ubrigen Jahrszeiten vorzuziehen und den Aufwand einer stattlichen Erleuchtung zum Element aller ihrer Genusse zu machen. Zwar an Wachskerzen fehlte es niemals, aber einer ihrer altesten Diener hatte so gro?e Lust an Kunstlichkeiten, da? nicht leicht eine neue Lampenart entdeckt wurde, die er im Schlosse hie und da einzufuhren nicht ware bemuht gewesen, wodurch denn zwar die Erhellung mitunter lebhaft gewann, aber auch wohl gelegentlich hie und da eine partielle Finsternis eintrat.
Die Baronin hatte den Zustand einer Hofdame durch Verbindung mit einem bedeutenden Gutsbesitzer und entschiedenen Landwirt aus Neigung und wohlbedachtig vertauscht, und ihr einsichtiger Gemahl hatte, da ihr das Landliche anfangs nicht zusagte, mit Einstimmung seiner Nachbarn, ja nach den Anordnungen der Regierung, die Wege mehrere Meilen ringsumher so gut hergestellt, da? die nachbarlichen Verbindungen nirgends in so gutem Stande gefunden wurden; doch war eigentlich bei dieser loblichen Anstalt die Hauptabsicht, da? die Dame, besonders zur guten Jahrszeit, uberall hinrollen konnte; dagegen aber im Winter gern hauslich bei ihm verweilte, indem er durch Erleuchtung die Nacht dem Tag gleich zu machen wu?te. Nach dem Tode des Gemahls gab die leidenschaftliche Sorge fur ihre Tochter genugsame Beschaftigung, der oftere Besuch des Bruders herzliche Unterhaltung und die gewohnte Klarheit der Umgebung ein Behagen, das einer wahren Befriedigung gleichsah.
Den heutigen Tag war jedoch diese Erleuchtung recht am Platze; denn wir sehen in einem der Zimmer eine Art von Christbescherung aufgestellt, in die Augen fallend und glanzend. Das kluge Kammermadchen hatte den Kammerdiener dahin vermocht, die Erleuchtung zu steigern, und dabei alles zusammengelegt und ausgebreitet, was zur Ausstattung Hilariens bisher vorgearbeitet worden, eigentlich in der listigen Absicht, mehr das Fehlende zur Sprache zu bringen als dasjenige zu erheben, was schon geleistet war. Alles Notwendige fand sich, und zwar aus den feinsten Stoffen und von der zierlichsten Arbeit; auch an Willkurlichem war kein Mangel, und doch wu?te Ananette uberall da noch eine Lucke anschaulich zu machen, wo man ebensogut den schonsten Zusammenhang hatte finden konnen. Wenn nun alles Wei?zeug, stattlich ausgekramt, die Augen blendete, Leinwand, Musselin und alle die zarteren Stoffe der Art, wie sie auch Namen haben mogen, genugsames Licht umherwarfen, so fehlte doch alles bunte Seidene, mit dessen Ankauf man weislich zogerte, weil man bei sehr veranderlicher Mode das Allerneueste als Gipfel und Abschlu? hinzufugen wollte.
Nach diesem heitersten Anschauen schritten sie wieder zu ihrer gewohnlichen, obgleich mannigfaltigen Abendunterhaltung. Die Baronin, die recht gut erkannte, was ein junges Frauenzimmer, wohin das Schicksal sie auch fuhren mochte, bei einem glucklichen Au?ern auch von innen heraus anmutig und ihre Gegenwart wunschenswert macht, hatte in diesem landlichen Zustande so viele abwechselnde und bildende Unterhaltungen einzuleiten gewu?t, da? Hilarie bei ihrer gro?en Jugend schon uberall zu Hause schien, bei keinem Gesprach sich fremd erwies und doch dabei ihren Jahren vollig gema? sich erzeigte. Wie dies geleistet werden konnte, zu entwickeln, wurde zu weitlaufig sein; genug, dieser Abend war auch ein Musterbild des bisherigen Lebens. Ein geistreiches Lesen, ein anmutiges Pianospiel, ein lieblicher Gesang zog sich durch die Stunden durch, zwar wie sonst gefallig und regelma?ig, aber doch mit mehr Bedeutung; man hatte einen Dritten im Sinne, einen geliebten, verehrten Mann, dem man dieses und so manches andere zum freundlichsten Empfang vorubte. Es war ein brautliches Gefuhl, das nicht nur Hilarien mit den su?esten Empfindungen belebte; die Mutter mit feinem Sinne nahm ihren reinen Teil daran, und selbst Ananette, sonst nur klug und tatig, mu?te sich gewissen entfernten Hoffnungen hingeben, die ihr einen abwesenden Freund als zuruckkehrend, als gegenwartig vorspiegelten. Auf diese Weise hatten sich die Empfindungen aller drei in ihrer Art liebenswurdigen Frauen mit der sie umgebenden Klarheit, mit einer wohltatigen Warme, mit dem behaglichsten Zustande ins gleiche gestellt.
Heftiges Pochen und Rufen an dem au?ersten Tor, Wortwechsel drohender und fordernder Stimmen, Licht- und Fackelschein im Hofe unterbrachen den zarten Gesang. Aber gedampft war der Larm, ehe man dessen Ursache erfahren hatte; doch ruhig ward es nicht, auf der Treppe Gerausch und lebhaftes Hin- und Hersprechen heraufkommender Manner. Die Ture sprang auf ohne Meldung, die Frauen entsetzten sich. Flavio sturzte herein in schauderhafter Gestalt, verworrenen Hauptes, auf dem die Haare teils borstig starrten, teils vom Regen durchna?t niederhingen; zerfetzten Kleides, wie eines, der durch Dorn und Dickicht durchgesturmt, greulich beschmutzt, als durch Schlamm und Sumpf herangewadet.
«Mein Vater!«rief er aus,»wo ist mein Vater?«Die Frauen standen besturzt; der alte Jager, sein fruhster Diener und liebevollster Pfleger, mit ihm eintretend, rief ihm zu:»Der Vater ist nicht hier, besanftigen Sie sich; hier ist Tante, hier ist Nichte, sehen Sie hin!«—»Nicht hier, nun so la?t mich weg, ihn zu suchen; er allein soll's horen, dann will ich sterben. La?t mich von den Lichtern weg, von dem Tag, er blendet mich, er vernichtet mich.»
Der Hausarzt trat ein, ergriff seine Hand, vorsichtig den Puls fuhlend, mehrere Bediente standen angstlich umher. — »Was soll ich auf diesen Teppichen, ich verderbe sie, ich zerstore sie; mein Ungluck trauft auf sie herunter, mein verworfenes Geschick besudelt sie.«— Er drangte sich gegen die Ture, man benutzte das Betreben, um ihn wegzufuhren und in das entfernte Gastzimmer zu bringen, das der Vater zu bewohnen pflegte. Mutter und Tochter standen erstarrt, sie hatten Orest gesehen, von Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in greulicher, widerwartiger Wirklichkeit, die im Kontrast mit einer behaglichen Glanzwohnung im klarsten Kerzenschimmer nur desto furchterlicher schien. Erstarrt sahen die Frauen sich an, und jede glaubte in den Augen der andern das Schreckbild zu sehen, das sich so tief in die ihrigen eingepragt hatte.
Mit halber Besonnenheit sendete darauf die Baronin Bedienten auf Bedienten, sich zu erkundigen. Sie erfuhren zu einiger Beruhigung, da? man ihn auskleide, trockne, besorge; halb gegenwartig, halb unbewu?t lasse er alles geschehen. Wiederholtes Anfragen wurde zur Geduld verwiesen.
Endlich vernahmen die beangstigten Frauen, man habe ihm zur Ader gelassen und sonst alles Besanftigende moglichst angewendet; er sei zur Ruhe gebracht, man hoffe Schlaf.
Mitternacht kam heran, die Baronin verlangte, wenn er schlafe, ihn zu sehen; der Arzt widerstand, der Arzt gab nach; Hilarie drangte sich mit der Mutter herein. Das Zimmer war dunkel, nur eine Kerze dammerte hinter dem grunen Schirm, man sah wenig, man horte nichts; die Mutter naherte sich dem Bette, Hilarie, sehnsuchtsvoll, ergriff das Licht und beleuchtete den Schlafenden. So lag er abgewendet, aber ein hochst zierliches Ohr, eine volle Wange, jetzt bla?lich, schienen unter den schon wieder sich krausenden Locken auf das anmutigste hervor, eine ruhende Hand und ihre langlichen, zartkraftigen Finger zogen den unsteten Blick an. Hilarie, leise atmend, glaubte selbst einen leisen Atem zu vernehmen, sie naherte die Kerze, wie Psyche in Gefahr, die heilsamste Ruhe zu storen. Der Arzt nahm die Kerze weg und leuchtete den Frauen nach ihren Zimmern.