Der Mann von f?nfzig Jahren - фон Гёте Иоганн Вольфганг (читать книги полностью TXT) 📗
In solcher Stimmung konnte man die Ankunft des Vaters gar wohl erwarten, auch wurden sie durch eintretende Naturereignisse zu einer tatigen Lebensweise aufgeregt. Das anhaltende Regenwetter, das sie bisher in dem Schlo? zusammenhielt, hatte uberall, in gro?en Wassermassen niedergehend, Flu? um Flu? angeschwellt; es waren Damme gebrochen, und die Gegend unter dem Schlosse lag als ein blanker See, aus welchem die Dorfschaften, Meierhofe, gro?ere und kleinere Besitztumer, zwar auf Hugeln gelegen, doch immer nur inselartig hervorschauten.
Auf solche zwar seltene, aber denkbare Falle war man eingerichtet; die Hausfrau befahl, und die Diener fuhrten aus. Nach der ersten allgemeinsten Beihulfe ward Brot gebacken, Stiere wurden geschlachtet, Fischerkahne fuhren hin und her, Hulfe und Vorsorge nach allen Enden hin verbreitend. Alles fugte sich schon und gut, das freundlich Gegebene ward freudig und dankbar aufgenommen, nur an einem Orte wollte man den austeilenden Gemeindevorstehern nicht trauen; Flavio ubernahm das Geschaft und fuhr mit einem wohlbeladenen Kahn eilig und glucklich zur Stelle. Das einfache Geschaft, einfach behandelt, gelang zum besten; auch entledigte sich, weiterfahrend, unser Jungling eines Auftrags, den ihm Hilarie beim Scheiden gegeben. Gerade in den Zeitpunkt dieser Ungluckstage war die Niederkunft einer Frau gefallen, fur die sich das schone Kind besonders interessierte. Flavio fand die Wochnerin und brachte allgemeinen und diesen besondern Dank mit nach Hause. Dabei konnte es nun an mancherlei Erzahlungen nicht fehlen. War auch niemand umgekommen, so hatte man von wunderbaren Rettungen, von seltsamen, scherzhaften, ja lacherlichen Ereignissen viel zu sprechen; manche notgedrungene Zustande wurden interessant beschrieben. Genug, Hilarie empfand auf einmal ein unwiderstehliches Verlangen, gleichfalls eine Fahrt zu unternehmen, die Wochnerin zu begru?en, zu beschenken und einige heitere Stunden zu verleben.
Nach einigem Widerstand der guten Mutter siegte endlich der freudige Wille Hilariens, dieses Abenteuer zu bestehen, und wir wollen gern bekennen, in dem Laufe, wie diese Begebenheit uns bekannt geworden, einigerma?en besorgt gewesen zu sein, es moge hier einige Gefahr obschweben, ein Stranden, ein Umschlagen des Kahns, Lebensgefahr der Schonen, kuhne Rettung von seiten des Junglings, um das lose geknupfte Band noch fester zu ziehen. Aber von allem diesem war nicht die Rede, die Fahrt lief glucklich ab, die Wochnerin ward besucht und beschenkt; die Gesellschaft des Arztes blieb nicht ohne gute Wirkung, und wenn hier und da ein kleiner Ansto? sich hervortat, wenn der Anschein eines gefahrlichen Moments die Fortrudernden zu beunruhigen schien, so endete solches nur mit neckendem Scherz, da? eins dem andern eine angstliche Miene, eine gro?ere Verlegenheit, eine furchtsam Gebarde wollte abgemerkt haben. Indessen war das wechselseitige Vertrauen bedeutend gewachsen; die Gewohnheit, sich zu sehen und unter allen Umstanden zusammen zu sein, hatte sich verstarkt, und die gefahrliche Stellung, wo Verwandtschaft und Neigung zum wechselseitigen Annahern und Festhalten sich berechtigt glauben, ward immer bedenklicher.
Anmutig sollten sie jedoch auf solchen Liebeswegen immer weiter und weiter verlockt werden. Der Himmel klarte sich auf, eine gewaltige Kalte, der Jahreszeit gema?, trat ein, die Wasser gefroren, ehe sie verlaufen konnten. Da veranderte sich das Schauspiel der Welt vor allen Augen auf einmal; was durch Fluten erst getrennt war, hing nunmehr durch befestigten Boden zusammen, und alsobald tat sich als erwunschte Vermittlerin die schone Kunst hervor, welche, die ersten raschen Wintertage zu verherrlichen und neues Leben in das Erstarrte zu bringen, im hohen Norden erfunden worden. Die Rustkammer offnete sich, jedermann suchte nach seinen gezeichneten Stahlschuhen, begierig, die reine, glatte Flache, selbst mit einiger Gefahr, als der erste zu beschreiten. Unter den Hausgenossen fanden sich viele zu hochster Leichtigkeit Geubte; denn dieses Vergnugen ward ihnen fast jedes Jahr auf benachbarten Seen und verbindenden Kanalen, diesmal aber in der fernhin erweiterten Flache.
Flavio fuhlte sich nun erst durch und durch gesund, und Hilarie, seit ihren fruhsten Jahren von dem Oheim angeleitet, bewies sich so lieblich als kraftig auf dem neu erschaffenen Boden; man bewegte sich lustig und lustiger, bald zusammen, bald einzeln, bald getrennt, bald vereint. Scheiden und Meiden, was sonst so schwer aufs Herz fallt, ward hier zum kleinen, scherzhaften Frevel, man floh sich, um sich einander Augenblicks wieder zu finden.
Aber innerhalb dieser Lust und Freudigkeit bewegte sich auch eine Welt des Bedurfnisses; immer waren bisher noch einige Ortschaften nur halb versorgt geblieben, eilig flogen nunmehr auf tuchtig bespannten Schlitten die notigsten Waren hin und wider, und was der Gegend noch mehr zugute kam, war, da? man aus manchen der vorubergehenden Hauptstra?e allzu fernen Orten nunmehr schnell die Erzeugnisse des Feldbaues und der Landwirtschaft in die nachsten Magazine der kleinen Stadte und Flecken bringen und von dorther aller Art Waren zuruckfuhren konnte. Nun war auf einmal eine bedrangte, den bittersten Mangel empfindende Gegend wieder befreit, wieder versorgt, durch eine glatte, dem Geschickten, dem Kuhnen geoffnete Flache verbunden.
Auch das junge Paar unterlie? nicht, bei vorwaltendem Vergnugen mancher Pflichten einer liebevollen Anhanglichkeit zu gedenken. Man besuchte jene Wochnerin, begabte sie mit allem Notwendigen; auch andere wurden heimgesucht: Alte, fur deren Gesundheit man besorgt gewesen; Geistliche, mit denen man erbauliche Unterhaltung sittlich zu pflegen gewohnt war und sie jetzt in dieser Prufung noch achtenswerter fand; kleinere Gutsbesitzer, die kuhn genug vor Zeiten sich in gefahrliche Niederungen angebaut, diesmal aber, durch wohlangelegte Damme geschutzt, unbeschadigt geblieben — und nach grenzenloser Angst sich ihres Daseins doppelt erfreuten. Jeder Hof, jedes Haus, jede Familie, jeder einzelne hatte seine Geschichte, er war sich und auch wohl andern eine bedeutende Person geworden, deswegen fiel auch einer dem andern Erzahlenden leicht in die Rede. Eilig war jeder im Sprechen und Handeln, Kommen und Gehen, denn es blieb immer die Gefahr, ein plotzliches Tauwetter mochte den ganzen schonen Kreis glucklichen Wechselwirkens zerstoren, die Wirte bedrohen und die Gaste vom Hause abschneiden.
War man den Tag in so rascher Bewegung und dem lebhaftesten Interesse beschaftigt, so verlieh der Abend auf ganz andere Weise die angenehmsten Stunden; denn das hat die Eislust vor allen andern korperlichen Bewegungen voraus, da? die Anstrengung nicht erhitzt und die Dauer nicht ermudet. Samtliche Glieder scheinen gelenker zu werden und jedes Verwenden der Kraft neue Krafte zu erzeugen, so da? zuletzt eine selig bewegte Ruhe uber uns kommt, in der wir uns zu wiegen immerfort gelockt sind.
Heute nun konnte sich unser junges Paar von dem glatten Boden nicht loslosen, jeder Lauf gegen das erleuchtete Schlo?, wo sich schon viele Gesellschaft versammelte, ward plotzlich umgewendet und eine Ruckkehr ins Weite beliebt; man mochte sich nicht voneinander entfernen, aus Furcht, sich zu verlieren, man fa?te sich bei der Hand, um der Gegenwart ganz gewi? zu sein. Am allersu?esten aber schien die Bewegung, wenn uber den Schultern die Arme verschrankt ruhten und die zierlichen Finger unbewu?t in beiderseitigen Locken spielten.
Der volle Mond stieg zu dem gluhenden Sternenhimmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung. Sie sahen sich wieder deutlich und suchten wechselseitig in den beschatteten Augen Erwiderung wie sonst, aber es schien anders zu sein. Aus ihren Abgrunden schien ein Licht hervorzublicken und anzudeuten, was der Mund weislich verschwieg, sie fuhlten sich beide in einem festlich behaglichen Zustande.
Alle hochstammigen Weiden und Erlen an den Graben, alles niedrige Gebusch auf Hohen und Hugeln war deutlich geworden; die Sterne flammten, die Kalte war gewachsen, sie fuhlten nichts davon und fuhren dem lang daherglitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar dem himmlischen Gestirn selbst entgegen. Da blickten sie auf und sahen im Geflimmer des Widerscheins die Gestalt eines Mannes hin und her schweben, der seinen Schatten zu verfolgen schien und selbst dunkel, vom Lichtglanz umgeben, auf sie zuschritt: unwillkurlich wendeten sie sich ab, jemanden zu begegnen ware widerwartig gewesen. Sie vermieden die immerfort sich herbewegende Gestalt, die Gestalt schien sie nicht bemerkt zu haben und verfolgte ihren geraden Weg nach dem Schlosse. Doch verlie? sie auf einmal diese Richtung und umkreiste mehrmals das fast beangstigte Paar. Mit einiger Besonnenheit suchten sie fur sich die Schattenseite zu gewinnen, im vollen Mondglanz fuhr jener auf sie zu, er stand nah vor ihnen, es war unmoglich, den Vater zu verkennen.
Hilarie, den Schritt anhaltend, verlor in Uberraschung das Gleichgewicht und sturzte zu Boden, Flavio lag zu gleicher Zeit auf einem Knie und fa?te ihr Haupt in seinen Scho? auf, sie verbarg ihr Angesicht, sie wu?te nicht, wie ihr geworden war. — »Ich hole einen Schlitten, dort unten fahrt noch einer voruber, ich hoffe, sie hat sich nicht beschadigt; hier, bei diesen hohen drei Erlen find' ich euch wieder!«so sprach der Vater und war schon weit hinweg. Hilarie raffte sich an dem Jungling empor. — »La? uns fliehen«, rief sie,»das ertrag' ich nicht.«— Sie bewegte sich nach der Gegenseite des Schlosses heftig, da? Flavio sie nur mit einiger Anstrengung erreichte, er gab ihr die freundlichsten Worte.
Auszumalen ist nicht die innere Gestalt der drei nunmehr nachtlich auf der glatten Flache im Mondschein Verirrten, Verwirrten. Genug, sie gelangten spat nach dem Schlosse, das junge Paar einzeln, sich nicht zu beruhren, sich nicht zu nahern wagend, der Vater mit dem leeren Schlitten, den er vergebens ins Weite und Breite hilfreich herumgefuhrt hatte. Musik und Tanz waren schon im Gange, Hilarie, unter dem Vorwand schmerzlicher Folgen eines schlimmen Falles, verbarg sich in ihr Zimmer, Flavio uberlie? Vortanz und Anordnung sehr gern einigen jungen Gesellen, die sich deren bei seinem Au?enbleiben schon bemachtigt hatten. Der Major kam nicht zum Vorschein und fand es wunderlich, obgleich nicht unerwartet, sein Zimmer wie bewohnt anzutreffen, die eignen Kleider, Wasche und Geratschaften, nur nicht so ordentlich, wie er's gewohnt war, umherliegend. Die Hausfrau versah mit anstandigem Zwang ihre Pflichten, und wie froh war sie, als alle Gaste, schicklich untergebracht, ihr endlich Raum lie?en, mit dem Bruder sich zu erklaren. Es war bald getan, doch brauchte es Zeit, sich von der Uberraschung zu erholen, das Unerwartete zu begreifen, die Zweifel zu heben, die Sorge zu beschwichtigen; an Losung des Knotens, an Befreiung des Geistes war nicht sogleich zu denken.